Dieser Blog erzählt die Geschichte von drei Handvoll Erde und und ihrer Reise durch ein Jahrhundert.

Montag, 1. Juli 2013

Irgendwas mit Widukind und Napoleon - das Elsternbuschdenkmal zu Enger.

Bei meinen Recherchen zu MAYERS ERDE stieß ich in Enger auf das Elsterbuschdenkmal. Am 8. November 1913 beging das Amt Enger das 100 jährige Jubiläum des Endes der "Französischen Fremdherrschaft". Dazu wurden Findlinge aus der Region und dem Amt Enger zusammengetragen und zu einem pyramidenähnlichen Gesteinshügel angehäuft. Auf den einzelnen Findlingen sind Orte des Amtes Enger wie Pöddinghausen, Oldinghausen oder Siele eingemeißelt.

Enger wurde 1807 Teil des Königreiches Westphalen und am 1. Januar 1811 dem französischen Kaiserreich eingegliedert. Das Ende der "Fremdherrschaft" wird auf dem Elsterbuschdenkmal auf den 8. November 1813 datiert und erhält 100 Jahre danach ein tonnenschweres Steingewicht. Dass sich 1914 und nur sieben Monate später das Deutsche Reich mit Frankreich im Kriegszustand befinden sollte, gewinnt in der Rückbetrachtung ein nationalistisches Geschmäckle. Es gilt kritisch zu befragen, dass in den Befreiungskriegen auch Engeraner Bürger im Dienst des Französischen Kaiserreiches gestanden haben und "für" Napoleon sterben mussten. Die inszenierten Findlinge schweigen sich darüber aus, wer auf wessen Seite für welche Befreiung gefallen ist.

Der Elsterbusch als gewählter Ort für die Erinnerung an die Befreiung von der französichen Fremdherrschaft bezieht sich auf den Sachsenkrieger und die Sagengestalt Widukind. Hier soll Widukind einen "Vogelherd" (einem Vogelbeobachtungspunkt) unterhalten haben und das verweist - folgt man der aufgestellten Erinnerungstafel - auf die besondere Volksnähe des Sachsenherzogs und Namensgeber der WIDUKINDSTADT Enger, wo die Gebeine in der Stiftskirche vermutet wurden.
Sucht man im web nach Widukind (dem Waldkind? einem Wolfskind? dem sagenumwogenen Helden, Heiden und Täufling) so trifft man auf eine profunde Webpräsenz von stadt- bis politmarketingorientierten Interessen geleitet und es taucht ein verschwommenes Bild auf, dass sich hier an unserer Stelle zwischen Widukind.org und Napoleonbezug diffus auflösen soll. Zu Widukind selbst findet man in Enger ein Museum, welches zu besuchen an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen werden soll, um dort eine genaue Verortung zwischen Sage, historischer Person und sich fortschreibender Geschichtsdeutung gewinnen zu können.


Die am Elsternbuschdenkmal gezogene historische Linie von Widukind, des zunächst heidnischen Sachsenkönigs, der gegen Karl den Großen kämpfte bis zu Napoloen und der "Befreiung von der Fremdherrschaft", verfolgt eine deutlich erbfeindliche Tradition gegen Frankreich, die heute vielleicht unter diesem Gesteinshügel begraben sein könnte. Wenn das Amt Enger um 1813 daraus ein germanisches bis deutsch-nationales Wertgefüge konstruiert, so zeigt sich hier die Suche oder der Bedarf einer jungen deutschen Nation nach Geschichtsbildern für die Einheit des Kaiserreiches Deutschlands.




Am 8. November 2013 jährt sich die Aufstellung des Elsternbuschdenkmals zum 200. Mal und man darf gespannt sein, auf den Umgang mit Sagen, Steinen und gedachten Gebeinen. Wie deutet die Stadt ihre eigene Geschichte? Wird es eine Feier geben? Wer redet warum worüber?
Und was geschieht regelmäßig an den inszenierten Geschichts-Orten unserer gedenksteinorientierten Identität?

Als ich am 15. April 2013 die 8. Station der Kultour durch die Stadt Enger besuche, finde ich eine zerdellte Infotafel vor und frische Spuren von gefälltem Gebüsch rund um dias Elsternbuschdenkmal. Gewöhnlich nähere ich mich den Stätten unserer Erinnerung anhand der Gebrauchsspuren und Reste, die man um das Denkmal verteilt vorfindet. Neben den üblichen alkoholischen Zündkerzen (kleiner Feigling, Jägermeister u.ä.) ein paar losen zerdellten Bierbüchsen, Zigarettenstummeln und Papieren finde ich im unmittelbaren Schatten der Steine im zerwühlten Erdreich einen Porno, der von Wasser und Witterung mosig verklebt zwischen Kiesel und Tonerden seinen erotischen Spannungsbogen bereits überlebt hatte.

Auszug aus dem Materialtagebuch des Onlinepromoventen, MAYERS ERDE, am 15. April 2013.
Als Pendent zum verbeulten eisernen Hinweisschild neben dem Denkmal finde ich den demontierten Vorgänger aus Plastik, der in untrauter Gesellschaft mit dem verklebten Porno unter ein paar Kiefernzapfen liegt.


Vandalismus, Alkohol und möglicherweise auch Sex und Sexsurrogate treten im Kontext unserer inszenierten Erinnerungskultur regelmäßig auf und beschreiben damit ein gewöhnliches Reaktionsmuster auf das Vorkommen von memmorialen Artefakten im öffentlichen Raum. Ob allerdings nur die Gelegenheit Liebe macht oder ob es sich um eine inhaltliche Reaktion auf inszenierte Geschichtsorte handelt, bleibt unklar. Zerstört man die Tafel, weil es eine Tafel ist, so wie man an den Mülleimer tritt, weil der "eh schon locker war" oder reagiert der Akteur gezielt auf den Elsternbuschsteinhaufen, weil er oder sie ihn ablehnt? Sollte ich Fragebögen für die Gedächtnistafelnhinweisschilderzerstörer entwickeln? Und wenn ja, wie interviewt man die Pornozurücklasser vom Elsternbusch? Sind das dieselben? Kann man den Porno als eine Art juveniles Bekennerschreiben auffassen, dass man vor Ort zurückläßt?

Vom Kontext zurück zum eingemeißelten Text auf der vermörtelten pyramidalen Gesteinsformation am Stadtrand der Kultour zu Enger.


Wird es regnen, falls am 8. November 2013 das 200jährige begangen wird?

Und weiter wird man die Rechtschreibung korrigieren, die sich in Stein vermeißelte? Handelt es sich dabei um einen subversiven Steinmetz bei den ersten Renovierungsarbeiten oder schlicht um einen Fehler von 1913? Wer deutet was wann warum? Kann man Geschichte korrigieren?

Vergnügt und gespannt verlasse ich an diesem 15. April 2013 den Ort der Erinnerung voller Fragen und mit der Aussicht auf das sich zweihundertfach jährende Datum.


Ruppe Koselleck
für MAYERS ERDE

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